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Krieg am Niederrhein

Die Ereignisse im Raum Wesel 1944/45

Zeitzeugen berichten

Eine Einwohnerin Hamminkelns, Klara Kempkes, geborene Brömmling, erinnert sich an den Tag der Luftlandung:

Wir saßen mit sieben Kindern, Vater und Mutter hinterm Haus in einem selbstgebauten Bunker und fühlten uns da sicher. Trotzdem hatten wir alle große Angst. Ein deutscher Soldat war auch noch in unserem Bunker. Als dann die englischen Truppen mit ihren Lastenseglern und Fallschirmen gelandet waren, hat Vater ein weißes Taschentuch an einen Stock gebunden und sich ergeben. Den deutschen Soldaten nahmen die Engländer mit und wir mussten alle auf die Diele und waren gespannt, was wohl geschehen würde. Die englischen Soldaten besetzten unsere Wohnung und nach ein paar Stunden kam ein Befehl, dass wir um sieben Uhr abgeholt und zur katholischen Kirche gebracht werden. Wir durften noch ins Haus, Decken, Kissen und ein paar Sachen holen. Um sieben Uhr wurden wir dann von bewaffneten englischen Soldaten abgeholt. Sie  brachten alle Familien aus der Roßmühlenstraße in die katholische Kirche. Alte Leute, junge Leute und Kinder, es waren auch viele Evakuierte aus Wesel dabei, die bei den Familien wohnten, insgesamt waren in der Kirche so zirka 98 Personen . Die Soldaten waren sehr nett und freundlich zu uns und sorgten auch fürs leibliche Wohl. Es gab Brot, Butter, Wurst und Milch. Ich wurde beauftragt, mit der Nachbarin Christine Zerene im Pfarrheim Brote zu schmieren, während Mutter Kaffee kochte. Die Brote wurden dann in Körben zur Kirche gebracht und verteilt. Draußen wurde in den nächsten Tagen viel geschossen, auch auf unsere Kirche, weil oben im Kirchturm ein englischer Beobachter saß. Ein älterer Mann wurde, als er an der Seitentür herausging, angeschossen und am Bein verletzt. Alle hatten große Angst und es wurde sehr viel gebetet. Die englischen Soldaten kamen oft in die Kirche und sahen nach dem rechten. Ich musste dann noch mit zwei Soldaten in den Geschäften van Nahmen und Köster nachschauen, ob dort noch was zu essen war, aber wir fanden nicht viel, nur etwas Wurst, Reis und Zucker. Aber die englischen Soldaten sorgten dafür, dass immer etwas zu essen da war.

(Aufgezeichnet 1994 für das Buch „Krieg vor der eigenen Haustür“)

Staff Sergeant John Harold Jenkins, britischer Lastenseglerpilot im Glider Pilot Regiment

Bericht von Jarmila Nickel aus Hamminkeln, verfasst 1994.

Der Offizier, der unsere kleine Gruppe kommandierte, Hauptmann Turner, war eifrig damit beschäftigt, alle Zivilisten zusammenzutreiben; die Frauen und Kinder wurden in der Kirche und die Männer im Gemeindesaal untergebracht. Mehrere Holländer, die Zwangsarbeit hatten leisten müssen, waren überglücklich über unsere Anwesenheit und wurden zu ihrer großen Freude in der Sakristei untergebracht. ... 

Einige der Zivilisten wurden eingeteilt, um in Begleitung von einem von uns die Kühe zu melken. Das verschaffte den Tieren Erleichterung und half, die Kinder mit Nahrung zu versorgen. Jede Frau durfte, ebenfalls in Begleitung, nach Hause gehen und von dort einen Koffer mit dem Nötigsten mitnehmen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie mein Schützling mit ihrem kleinen Kind den ganzen Weg zurück zu ihrem Haus eilte, dabei warf sie immer wieder ängstliche Blicke über ihre Schulter auf mich, den furchtbaren „Red Devil“, der sie begleitete. Als wir an ihrem Haus ankamen, stellte sie fest, dass sie den Schlüssel verlegt hatte. Ich musste die verängstigte Frau davon abhalten, durch ein Fenster zu steigen, dessen Scheibe zerbrochen war. Stattdessen kletterte ich hinein und ließ sie durch die Tür eintreten, woraufhin sie sich eilig einen großen Koffer schnappte, der bereits für Notfälle gepackt war. Nachdem ich ihn kurz durchsucht hatte, gab ich das OK und wir gingen zurück zur Kirche. "Wenn Gott es so gewollt hätte, wären vielleicht unsere Frauen in einer solchen Lage gewesen", dachte ich und nahm ihr so freundlich wie möglich den schweren Koffer aus ihren zitternden Händen und trug ihn den Rest des Weges.

Am Abend begannen die Deutschen, uns zu beschießen und nutzten den Kirchturm als Zielpunkt für ihre Artillerie. Wir hatten mehrere Opfer unter den Zivilisten zu beklagen, als eine Granate auf der Orgelempore und eine andere neben der Pumpe im Hof einschlug.

(aufgezeichnet für die britische Website “The Pegasus Archive“ www.pegasusarchive.org)

 

Oskar Treutlein (1934 – 2017) aus Büderich war im März 1945 zehn Jahre alt:

Meine Tante Johanna und mein Onkel Josef waren in Wesel ausgebombt und nach Hamminkeln evakuiert, ebenso wie meine Mutter und ich. Dort wohnten wir bei Möllenbeck in der Bramhorst. Freitag abends begann der Artilleriebeschuss und wir gingen zu Schlabes in den Rübenkeller, denn der war als Luftschutzraum ausgewiesen. Am nächsten Morgen wollten wir von dort wieder zurückgehen, aber dann hörten wir Flugzeuge. Wir dachten: Das ist ein Luftangriff auf das Ruhrgebiet. Es war ein glasklarer Frühlingstag, aber dann wurde der Himmel dunkel – und so gingen wir wieder zurück zu Schlabes. Dann landeten die Lastensegler. Von Schlabes aus habe ich gesehen, dass deutsche Soldaten mit der Panzerfaust auf die Lastensegler schossen. Bei uns hielt Herr Hesper schon ein weißes Tuch hinterm Rücken versteckt und animierte die deutschen Soldaten, sich zu ergeben. Die Zivilisten hatten Angst, denn Widerstand gefährdete sie, man dachte, die Engländer würden uns ausräuchern. Ein deutscher Unteroffizier bedrohte Herrn Hesper - und auch uns. Dann wollten die Soldaten Zuflucht bei uns suchen, doch die Bunkerinsassen trieben sie wieder heraus. Erst später, als der Unteroffizier von den Engländern gefangen genommen wurde, trat Ruhe ein. So um 14 oder 15 Uhr gingen wir zu Möllenbeck zurück. Auf der Tenne war ein Verbandsplatz, dort sah ich Sterbende und Verwundete, das ging mir und geht mir heute noch nah. Da war ein junger Engländer mit Bauchschuss, die Eingeweide hingen raus und er stöhnte „Mother.“ Die Sanitäter kümmerten sich auch um deutsche Verwundete, die sie zusammenflickten. Im Kuhstall waren deutsche Gefangene eingesperrt.

Ich war das einzige Kind, für mich war das alles furchtbar. Ich sollte das nicht weiter mitansehen, deswegen gab mir ein englischer Sergeant einen ehrenvollen Auftrag: „Bring den deutschen Soldaten doch mal Wasser.”  Und so ging ich mit dem Melkeimer zur Pumpe. Dann kam die Order: Alles packen, Notköfferchen mitnehmen, ich hatte meinen Schultornister dabei. Es folgte der Abmarsch nach Hamminkeln. Die Kampfhandlungen hatten größtenteils aufgehört, und ich sah die ersten Toten auf den Wiesen und im Graben liegen. Wir wurden zur evangelischen Kirche gebracht, zuerst waren wir so 15-20 Leute, das wurden mehr, es sammelte sich wie eine Prozession. Die Engländer waren nicht so freundlich, sie verboten uns zu sprechen. Wir kamen in die evangelische Kirche, da waren schon viele Leute. Am späten Abend oder in der Nacht hieß es, die Männer sollten in den Saal Neu gehen. Auf dem Kirchturm war so etwas wie eine Funk- oder Messstation. Wir sollten in der Kirche bleiben, man sagte uns nicht, wie lange, aber es gab Verpflegung: Butter, Käse, Brot. Auf dem Altar wurde Brot geschnitten, Butter in Würfel geschnitten. Leute saßen auf den Bänken, Kinderwagen standen in den Gängen. Die Kirche war sehr voll, aber alles lief ruhig ab. Am Sonntagabend sagte ein holländischer Dolmetscher, dass man die Deutschen davon in Kenntnis gesetzt hätte, dass in der Kirche Frauen und Kinder sind: “Macht euch keine Sorgen, die Sicherheit ist gewährleistet.”

Als wir uns für die Nacht vorbereiteten, verabschiedete ich mich von meinem Spielkameraden. Dann kam der Knall, es wurde dunkel, der Spielkamerad fiel um, ich bekam einen Schlag in die Hand. Dann brach Panik aus, alle wollten raus, stürmten heraus zu Neu. Der Bierkeller dort war ein altes Gewölbe, dort fühlten wir uns sicherer. Meiner Mutter hatte ein Splitter das Ohr durchschlagen, meine Tante hatte einen Splitterdurchschuss im Arm. Englische Sanitäter und ein Arzt kümmerten sich um die Verwundungen. Herr Schlabes war umgekommen, Frau Möllenbeck war tot, eine Frau verlor Mutter und Sohn in der Kirche. Es war ein ziemliches Durcheinander. Die Engländer waren reserviert, aber hilfsbereit, und man konnte sich nicht beschweren. Ich schmuggelte mich wieder in den Saal Neu, zu den Männern, die mussten während der Nacht dortbleiben. Am Montagmorgen sah man das ganze Chaos rundherum, im Laufe des Tages wurden wir laufen gelassen. Eine Familie Schroer, von der Schmiede, nahm uns mit zu sich. Im Dorf war militärischer Durchgangsverkehr, jede Menge Panzer rasselten durch. Deswegen wir mussten im Haus bleiben. Zuerst gab es eine Ausgangssperre, dann gab es ein paar Stunden pro Tag, an denen die Leute Besorgungen machen konnte. Außerdem wurden englische Soldaten in das Haus einquartiert.

(Aufgezeichnet 1994 von Alexander Berkel)

Willi Schlaghecken aus Bienen bei Rees erlebte 1945 die Kämpfe um Bienen

Ich war damals achteinhalb Jahre alt. Zu unserer Familie gehörten Opa und Oma meine Eltern, wir sieben Kinder und unsere Tante Emma. In unserer Scheune waren ca. 8o Fremdarbeiter untergebracht, die hier in der Gegend Stellungen bauen mussten. In der Zeit vor dem Rheinübergang wurde emsig Waffen und Gerät gelagert. Die Bauern mussten mit Fahrzeugen auch Munition vom Bahnhof Empel holen. Ich fuhr manchmal mit.  Am 23. März, als der Angriff von der anderen Rheinseite her eröffnet wurde,  bekam meine Mutter im Keller ihr achtes Kind. Auch unser Haus wurde von der anderen Rheinseite her heftig beschossen. Ganze Wände brachen zusammen. In einem ruhigen Moment kam ich aus dem Keller und sah das der Kirchturm brannte und dann auf Schule und Lehrerhaus stürzte. Wir bekamen Granateinschläge im Keller und mussten in einen kleinen Gewölbekeller wechseln. An einem dieser Tage sah ich zu meinem Erstaunen einen Panzer unten am Kriegerdenkmal. Er drehte sein Rohr wohl zufällig genau auf mich. Schnell lief ich in den Keller und schon krachte es. Die Haustüre flog auseinander. Mein Opa wurde getroffen. Er hatte den Keller nicht mehr erreicht. Ein Bein war von einem Granatsplitter abgerissen.

In der folgenden Nacht wurde unser Haus von deutschen Soldaten beschossen. Es brannte. Bei einem Treffer vor dem Kellerfenster wurde mein Bruder Alfons von einem Granatsplitter getroffen. Meine Mutter bekam einen ganzen Berg Steine in den Rücken. Sie hatte starke Schmerzen. Abwechselnd kamen mal deutsche und dann englisch sprechende Soldaten in den Keller. Sie schossen in alle Ecken. Dann kamen wieder englisch sprechende Soldaten und forderten Decken an. Sie bedeckten damit ihre toten Kameraden. Dann holten sie uns aus dem Keller und wir wurden getrennt.  Oma und Opa und unsere Mutter sowie die Brüder Alfons und Josef wurden in einen Jeep gesetzt. Ab ging es mit Ihnen. Sie kamen in das Lazarett nach Bedburg-Hau. Mein Opa und mein Bruder Alfons sind dort an ihren Verwundungen gestorben. Wir, die wir zurückgeblieben waren, mussten uns in das Lager für Bienener Flüchtlinge auf dem Hof Aryus in Esserden-Reeserward, begeben.

(veröffentlicht in: Josef Becker, Bienen 1939-1945. Erinnerungen, Erlebnisse, Berichte, Bienen 1999)

Hans Heßmer war als Soldat in Bienen eingesetzt

Der deutsche Soldat Heinz Otto wurde bei den Kämpfen
in Bienen im Alter von 28 Jahren getötet.
(Foto: Sammlung Becker)

Unsere Einheit, die Panzerjägerabteilung 6 von der 6. Fallschirmjägerdivision, kam schwer angeschlagen aus dem Brückenkopf Wesel in rechtsrheinisches Gebiet. Einige Tage haben wir in einem kleinen Ort bei Wesel verbracht, dann sind wir nach Bienen verlegt worden. Rund um die Kirche kam unsere Einheit in Privatquartiere. Ich war mit einigen Kameraden im Hause Paul Becker untergebracht. Es waren Tage, die wir in verhältnismäßiger Ruhe verbrachten, und ich erinnere mich, dass Frau Becker manchmal auch für uns Soldaten eine leckere Milchsuppe kochte. Einige Male ging ich mit meinem Kameraden Heinz Otto in die direkt neben unserem Quartier liegende Bienener Pfarrkirche. Heinz Otto war angehender Organist; er spielte dort die Orgel und ich musste für ihn den Blasebalg drücken. Wir wurden in unsere Stellungen eingewiesen und waren auch mit deren Ausbau beschäftigt. Wir waren nur mit unseren Infanteriewaffen ausgerüstet. Über Geschütze zur Panzerabwehr, die wir als Panzerjäger unbedingt benötigten, verfügten wir nicht. Wir hatten nur die Panzerfaust und den Panzerschreck, Waffen, die nur zur Nahabwehr tauglich sind. Unser Kompaniegefechtsstand war an der Millinger Straße. Unser Kompanieführer war Helmut Franz. Wir genossen die Ruhetage in Bienen, wussten aber bestimmt, dass diese nicht von langer Dauer sein würden. Es wurde vermutet, dass sich der Rheinübergang in dieser Gegend abspielen würde. Ungefähr 2 bis 3 Tage, bevor es dann losging, wurde in unmittelbarer Nähe unseres Quartieres ein Landarbeiter beim Pflügen auf dem Feld von angreifenden Jabos getötet. Ein Kamerad von mir musste die schwerverletzten Pferde erschießen.

Am Freitag, dem 23. März, gegen 17.00 Uhr, setzte dann das vorbereitende Artilleriefeuer für den Angriff von der anderen Rheinseite her ein. Wir Soldaten rieten der Familie Becker, die in ihrem Hause über keinen sicheren Kellerraum verfügte, sich zu einem geeigneteren Schutzraum im Hause Aryus zu begeben. Bei dem schnellen Umzug haben wir die Familie Becker noch begleitet. Das sehr starke, konzentrierte Granatfeuer hielt ununterbrochen bis zum anderen Morgen an. Dann wurde es etwas ruhiger. An einigen Stellen im Dorf, auch bei uns am Kirchplatz, kamen Verstärkungen an. Am Kirchplatz fuhren einige Panzer bzw. Sturmgeschütze in Stellung. Diese wurden im Laufe des Vormittages, am Samstag, dem 24. März, von gegnerischen Jagdbombern mit Raketen angegriffen. Wir waren in Deckung, und als die Jabos abdrehten, sahen wir, was sie angerichtet hatten. Ein Besatzungsmitglied des Panzers, vermutlich war es der Kommandant, der vor dem Angriff den Panzer verlassen hatte, suchte und rief verzweifelt nach einer Brechstange. Sein Panzer hatte Raketentreffer erhalten, und die Luke ließ sich weder von innen noch von außen öffnen. Wir hörten die verzweifelten Rufe der Eingeschlossenen und Qualm drang aus dem Inneren nach außen. Kurze Zeit darauf gab es eine Explosion - im Inneren des Panzers war die Munition hochgegangen. Wir wussten schon, dass es dort nichts mehr zu retten gab. Das Haus unserer Quartiersleute stand in Flammen. Aus dem Kirchendach stieg an einer Stelle verdächtiger gelblicher Qualm nach außen. Nach unserer Erfahrung rührte dieser von einer Phosphorgranate her. Mit einem Kameraden bin ich von innen den Kirchturm hinaufgestiegen, wir kamen aber nicht weiter ins Mittel- oder Seitenschiff, und wir mussten uns wieder nach unten begeben. Ob nun die Kirche durch diese Phosphorgranaten oder beim Angriff der Jabos in Brand geriet, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Aus dem Hause Aryus habe ich später noch solch eine Brandgranate nach draußen werfen können. Am späten Nachmittag, am Sonntag, dem 25. März 1945, war der Kampf um Bienen entschieden. Unsere Gruppe war im Hause Aryus versammelt, und wir wollten uns weiter zur Hauptstraße hin absetzen. Wir waren in der Diele des Hauses, als ein Panzergeschoß dort einschlug. Einige Kameraden waren tödlich getroffen und andere schwer verwundet. Ich erhielt eine Oberschenkelverwundung. Im Keller wurden wir notdürftig verbunden. Hierbei haben die Töchter unserer Quartiersleute hervorragendes geleistet. Durch die kurz darauf eintreffenden kanadischen Soldaten wurden wir nach oben geschafft und auf ein Transportfahrzeug verladen. Die ganze Nacht blieben wir auf diesem Fahrzeug am Hause Aryus liegen, ohne weiter versorgt zu werden.

(veröffentlicht in: Josef Becker, Bienen 1939-1945. Erinnerungen, Erlebnisse, Berichte, Bienen 1999)

Maria Tepahs erlebte die Kämpfe in Bienen – sie musste im Keller des Elternhauses Schutz ausharren, in dem auch deutsche Soldaten Schutz suchten.

Kanadische Soldaten nach dem Kampf um Bienen. (Foto: LAC)

Ergeben wollten sich die Fallschirmjäger nicht, sie wollten sich höchstens nach hinten absetzen. Irgendwann am Sonntag hieß es dann plötzlich für die Soldaten: „Raus! “  Sie hatten sich bei uns im Keller beraten und wollten abziehen. Sie stiegen die Treppe hoch und sammelten sich im großen Flur der Gaststätte Aryus. In dem Moment kam ein feindlicher Panzer auf dem Kirchplatz um die Ecke und schoss direkt auf die Tür des Raumes, in dem die Soldaten standen, die bei uns Zuflucht gesucht hatten. Die Granate explodierte im Hausflur. Es gab Tote und Verwundete. Auch Heinz Otto, ein Soldat, der bei unseren Nachbarn einquartiert war und den wir gut kannten, kam oben im Flur ums Leben. Er hatte uns schon vorher gesagt, dass er seinen Tod vorausahne und uns seine Adresse gegeben, damit wir seine Eltern benachrichtigen könnten. Ein anderer Soldat, Mößthaler, stürzte nach der Explosion schwer verletzt die Kellertreppe hinunter. Wir versuchten, seine vielen, schrecklich blutenden Verletzungen mit zerrissenen Bettlaken zu verbinden, während er nach seiner Mutter schrie. Aber er war nicht mehr zu retten und verblutete vor unseren Augen. Zwei weitere Verletzte lagen außerdem noch bei uns im Keller auf einer Pritsche. Im Nebenkeller, auf der anderen Seite des Flures, lagen auch verletzte Soldaten. Einer von ihnen, dem ein Bein zerfetzt oder abgerissen worden war, schrie ganz fürchterlich. Meine Schwester Hilde robbte mit einer anderen Frau durch den Flur in den anderen Keller, versorgte die Verwundeten dort und stillte deren Durst mit Wasser und dem Saft von eingemachtem Obst.

(veröffentlicht in: Josef Becker, Bienen 1939-1945. Erinnerungen, Erlebnisse, Berichte, Bienen 1999)

Josef Becker lebte in Bienen, er war im März 1945 16 Jahre alt. Im Keller seines Elternhauses suchten er und viele Nachbarn Schutz

Jetzt war unser Keller mit siebenundzwanzig Zivilisten und etlichen Soldaten belegt. Gepäckstücke, Koffer und Taschen lagen überall verstreut durcheinander herum. Außerdem hingen dort auch unsere Klamotten an einem Draht quer durch den Keller; an den Wänden standen Regale mit Eingemachtem. Von der Familie Wessels hörten wir, dass der Keller beim Nachbarn Sent durch Granateinschläge getroffen und schwer beschädigt worden sei, und schon nach kurzer Zeit hat auch die Familie Sent den eigenen Keller verlassen müssen und kam durch Giesens Garten zu uns gelaufen. Es waren Vater Johann und Frau Klara Sent, die Töchter Helene und Irene sowie die Söhne Hans und Alois und der Schwiegersohn Theodor Gerritzen. Nun waren es nochmals sieben Personen mehr, und damit waren insgesamt vierunddreißig Zivilisten in dem kleinen Raum zusammengedrängt. Dazu kamen die Soldaten von den Granatwerfern, die zwar nicht immer anwesend waren, aber immer waren einige von ihnen unter uns. Sents berichteten, dass wieder eine Granate auf der Kellerdecke eingeschlagen sei und dass sie dort nicht mehr bleiben könnten. Die Tochter Irene Sent war von mehreren kleinen Splittern verletzt worden und wurde im Keller von ihrem Vater, er war Sanitäter, verbunden. Wir Jungens saßen meist mit den Soldaten in dem kleinen Vorraum unter der Treppe. Das Granatfeuer, das eigentlich nie ganz aufhörte, steigerte sich am Abend und in der Nacht wieder zu ununterbrochenem Trommelfeuer, das bis in die Morgenstunden des Sonntags anhielt. Man kann es sich nur schwer vorstellen, was dort in dem kleinen dunklen Keller ablief, besonders wenn Granaten ins Haus einschlugen, und man glaubte, das Haus müsse jeden Moment einstürzen, oder eine Granate würde die Wand oder die Kellerdecke durchschlagen. Besonders die Kinder und die alten Leute schrien, beteten und weinten in einem fort. Die Frauen und Kinder gingen auch nicht mehr nach oben zur Toilette (die war ja auch schon zerschossen) oder ins Freie. Der ganze Mief, Staub, Schweiß und Pulverdampf, dazu das Rufen, Schreien und Beten der Kinder und Frauen die ganze Nacht hindurch - all das ging furchtbar an die Nerven.

(Aus: “Bienen 1939-1945. Erinnerungen, Erlebnisse, Berichte” von Josef Becker, veröffentlicht 1999)

Kanadischer Bericht über den Kampf um Bienen aus dem Kriegstagebuch der North Nova Scotia Highlanders. (LAC)

Nach dem Ende der Kämpfe verbrachte Josef Becker vier Tage in Grietherbusch, doch er und seine Familie wollten schnell nach Bienen zu ihrem Haus zurückkehren. Josef Becker berichtet in seinem Buch

So sah der deutsche Soldatenfriedhof in Bienen anfangs aus.
(Foto: Sammlung Becker)

Ich lief nach Bienen herein und kam zum Kirchenland, auf dem heute das Bürgerhaus steht. Ich ging ich auf einen Kanadier zu, der in einem der kleinen flinken Kettenfahrzeuge saß und fragte ihn auf gut deutsch: „Wo Kommandantur?“ Er schaute mich kurz an, dann hob er seine Pistole, mit der er wohl gespielt hatte, zielte auf mich und sagte: „Hier Kommandantur!“ Ich legte verständlicherweise gleich den Rückwärtsgang ein, fragte nicht weiter nach der Kommandantur und lief durch das zerstörte Dorf nach Hause. Hier traf ich Mutter und die Geschwister an, die gerade von Schlütter zurückgekommen waren. Soweit ich mich erinnere, waren alle anderen noch bei Schlütter zurückgeblieben. Die kanadischen Hausbesatzer waren schon abgerückt. Nach kurzem Aufenthalt ging ich wieder nach Grietherbusch, um am nächsten Tag gemeinsam mit meinem Vater wieder nach Bienen zurückzukehren. Jetzt waren wir alle wieder beisammen. Am Ostermontag, es war der 2. April und das Wetter sehr regnerisch, saßen Bernd und ich auf dem kaputten Dach und versuchten, wenigstens die Küche gegen den Regen trocken zu halten. … Aber alle waren wir glücklich, dass der Krieg für uns zu Ende war. Nun wurde begonnen, alles wieder ein wenig besser zu gestalten. Dass der Krieg verloren gehen würde, stand für die meisten Bewohner hier schon lange fest. Das wirklich Neue war, im negativen Sinne, dass das Dorf Bienen fast ganz zerstört war - auch wenn man das im Moment noch nicht ganz überblicken konnte. Mitbürger waren ums Leben gekommen, und etwa 70 gefallene deutsche Soldaten waren im ganzen Dorf verstreut beerdigt oder mussten noch bestattet werden. Zwei Friedhöfe für gefallene britische bzw. kanadische Soldaten waren am Dorfrand angelegt worden. Alles Großvieh, das am Ort verblieben und umgekommen war, musste vergraben werden. Die meisten Kadaver wurden in die Schützengräben, Stellungen und Bombenkrater geschleppt. Ausgebrannte Ruinen überall. Abgeschossene oder verlassene Panzerwagen und andere Fahrzeuge standen an den Wegen. Das schöne friedliche Dorf gab es nicht mehr. Die neue Zeit brachte anfangs auch andere Probleme. Es ist bekannt, dass die kanadischen Soldaten Uhren, Ringe und andere Wertsachen aus den Taschen und vom Körper von Zivilisten raubten. Man könnte hier die Namen vieler Personen nennen, denen es so ergangen ist. Auf materielle Werte, Einrichtungsgegenstände und Möbel usw. nahmen die Kanadier keine Rücksicht. Mutwillig verschmutzten, zerschlugen und verschleppten sie vieles.

(aus: “Bienen in Bildern, Erinnerungen und Berichten” von Josef Becker, veröffentlicht 2010)

David Dickson (1921-2014) war Major und Kompaniechef in der kanadischen Armee und kämpfte in Bienen

Dickson und Becker am Denkmal am Kirchplatz in Bienen. Es erinnert an die
kanadischen und britischen Opfer der Kämpfe sowie an die niederländischen
Zwangsarbeiter, die in Bienen starben und gequält wurden. Die Gedenkstätte
entstand in gemeinsamer Initiative von schottischen und kanadischen Veteranen,
niederländischen Überlebenden und in Zusammenarbeit mit Josef Becker
und Bienener Bürgern. (Foto: August Becker)

Wir, meine Kompanie, die D-Kompanie, erhielten den Auftrag, westlich von Bienen am Deich entlang vorzugehen und in das Dorf einzudringen.

Leider wurde Bienen sehr hartnäckig und mit vielen Maschinengehwehren verteidigt, und wir erlitten dort schwere Verluste. Ich glaube, 18 Mitglieder meiner Kompanie fielen. Bei den North Nova Scotia Highlanders gab es an diesem Nachmittag, einem Sonntagnachmittag, Palmsonntag 1945, 40 Tote. Ich erlitt eine Verletzung, als ich versuchte, über den Deich zu den Gebäuden des Dorfes zu gelangen. Ich wurde von einer Kugel getroffen, die meine rechte Seite durchdrang und in der Mitte meines Rückens wieder austrat. Sie durchschlug Lunge, Leber und Niere – diese Niere musste deswegen entfernt werden. Das Geschoss brach mehrere Rippen und durchschlug mein Zwerchfell usw. Ich hatte großes Glück, zu überleben, denn ich stürzte und lag oben auf der Deichkrone … Meine Frau schickte mir immer John Cotton Pfeifentabak aus England, und ich benutzte nie einen Tabakbeutel. Ich hatte eine Tabakdose, die ich immer in meiner Kampfjacke trug. Ich wurde schließlich vom Deich gezogen, nachdem einer meiner Sergeanten, der sich auf mich geworfen hatte, von einer Mörsergranate getötet worden war. Jemand anders, ein Artillerie-Funker, ein Corporal namens Bob Muir, zog mich vom Deich. Als er mir die Jacke auszog, fiel die Tabakdose heraus, und er sagte: „Mein Gott, sehen Sie mal!“ Er sagte, die Kugel sei direkt durch die Dose gegangen. Da die Kugel meine Wirbelsäule nur um einen Zentimeter verfehlt hatte, aber auf dem Rücken wieder austrat und ein großes Loch riss, hatte ich immer das Gefühl, dass diese Tabakdose mich vielleicht davor bewahrt hatte, für den Rest meines Lebens gelähmt zu sein. Oder vielleicht für den Rest meines Lebens tot zu sein. Aber wie auch immer, ich wurde evakuiert und hatte großes Glück, zu überleben. Muir übergab mich übrigens ein paar North Nova-Soldaten, die an der Hand bzw. am Arm verwundet waren; und sie schleppten mich ein paar hundert Meter zurück zum Verbandplatz des Regiments.

Er selbst erzählt diese Geschichte in dieser Audio-Aufzeichnung:

https://webapp.driftscape.com/map/1114b27e-a017-11eb-8000-bc1c5a8f0f67

Der kanadische Veteran David Dickson an der Rosau am Deich
bei Bienen. Hier war der Verbandplatz, zu dem Dickson nach
seiner Verwundung gebracht wurde. (Foto: August Becker)

 

Links David Dickson (1921-2014), neben ihm Josef Becker (1929-2019).
Dickson wurde als kanadischer Soldat in Bienen verwundet,
Josef Becker erlebte die Kämpfe als Jugendlicher und wurde später
zum Chronisten der Kriegsgeschichte in Bienen. (Foto: August Becker)