Zivilisten im Krieg
Auf der linken Rheinseite wird die Zivilbevölkerung im März 1945 von den Alliierten in einem Lager in Bedburg interniert. Zivilisten auf der rechten Rheinseite geraten ab dem 23. März 1945 zwischen die Fronten und stehen plötzlich alliierten Soldaten gegenüber.
Am 7. Oktober 1944 griffen insgesamt 700 alliierte Bomber Emmerich und Kleve an – bei diesen ersten gezielten Großangriffen auf niederrheinsche Städte starben über 1000 Zivilisten. Viele Menschen nahmen diese Angriffe als Warnsignal wahr und begannen, eine Flucht in Erwägung zu ziehen. In Wesel hatte die nicht berufstätige Bevölkerung die Möglichkeit, Sonderzüge zu nutzen, die abends abfuhren und Flüchtlinge in sichere Gebiete Deutschlands brachten. Auch in linksrheinischen Städten nutzten Frauen und Kinder die Möglichkeit zur Evakuierung – viele Niederrheiner kamen vorläufig im Raum Magdeburg unter, einige gelangten nach Württemberg. Ab Mitte Oktober 1944 wurde im Kreis Kleve ein 10 bis 15 Kilometer breiter Streifen hinter der Frontlinie zur „Roten Zone“ erklärt, zu der auch das Stadtgebiet von Kleve gehörte. Frauen und Kinder mussten diese Zone verlassen, Männer unter 60 durften bleiben. Hinter dieser Zone lag die „Grüne Zone“, der rückwärtige Raum hinter der Front. Hier hielten sich fortan viele der evakuierten Zivilisten aus der „roten Zone“ auf. Die Frontlinie verlief noch jenseits der Grenze, auf niederländischem Boden, deswegen mussten dort auch die niederländischen Bewohner der „Roten Zone“ zwangsweise ihre Häuser und Höfe verlassen. Die Flüchtlingstrecks durchquerten zu Fuß den linken Niederrhein Richtung Rees, setzten dort über den Fluss und mussten sich rechtsrheinisch wieder auf niederländisches Gebiet begeben. Das Vieh aus den betroffenen Gebieten beiderseits der Grenze wurde nach Osten getrieben und über den Rhein gebracht. Hitlerjungen begleiteten diese Viehtrecks.
Die Gefahr wächst
Anfang Februar 1945 verlief die Front entlang des Westwalls noch immer auf niederländischem Boden zwischen Nimwegen und Roermond. Die „Rote Zone“ hinter der Front wurde auf deutschen Befehl nun weitgehend von allen verbliebenen Zivilisten geräumt. Am 1. Februar griffen Bomber die Weseler Eisenbahnbrücke und die Straßenbrücke an. Sie trafen auch das Weseler Stadtgebiet, es gab Tote und Verletzte unter der Bevölkerung. Nach diesen Angriffen stellten in Wesel alle Schulen auf unbestimmte Zeit ihren Unterricht ein, die Stadtverwaltung war zu diesem Zeitpunkt bereits nach Blumenkamp ausgelagert. Wieder war die Gefahr greifbarer geworden, und so verließen zahlreiche Weseler die Stadt. Züge fuhren von Drevenack ab, um Zivilisten in Sicherheit zu bringen. Doch auch Zugfahrten waren riskant, denn tagsüber beherrschten alliierte Tiefflieger den Himmel. Sie griffen neben deutschen Militärfahrzeugen und -kolonnen auch einzelne Zivilisten, Radfahrer, pflügende Bauern oder Pferdegespanne an. Eisenbahnzüge galten als besonders lohenswertes Ziel, da sie mutmaßlich deutsche Truppen oder Nachschub an die Front transportieren konnten. Das führte am 8. Februar bei Wesel zu einem tragischen Vorfall - alliierte Jagdbomber beschossen einen Güterzug mit zwangsevakuierten niederländischen Familien aus Roermond. Der Zug hatte längere Zeit auf einem Abstellgleis in den Kanonenbergen bei Blumenkamp gestanden und so ein leichtes Ziel abgegeben. 15 niederländische Zivilisten starben bei dieser Attacke. Zwei Tage später griffen amerikanische Bomber das nördliche Stadtgebiet von Wesel an. Viele Weseler, die bisher nicht hatten fliehen wollen, suchten und fanden nun Unterkunft bei Verwandten und Bekannten in den umliegenden Dörfern. So entgingen sie dem „schwarzen Freitag“ – an jenem 16. Februar 1945 zerstörten zwei schwere Bombenangriffe die Stadt Wesel zu großen Teilen. An diesem Tag starben 322 Einwohner, darunter auch Weseler, die schon zu Weihnachten 1944 nach einer ersten Evakuierung in die Stadt zurückgekehrt waren. Nach dem „schwarzen Freitag“ flohen die Überlebenden aus der Stadt, die in den folgenden Tagen noch mehrfach bombardiert wurde.
Zur Evakuierung gezwungen
Bereits seit dem 8. Februar 1945 war der linke Niederrhein zum Kampfgebiet geworden. Zivilisten, die sich dort noch aufhielten, gerieten zwischen die Fronten oder waren zur Flucht gezwungen. Am 11. März war der gesamte linke Niederrhein von britischen, kanadischen und amerikanischen Truppen erobert. Noch am gleichen Tag befahlen die Alliierten, das linksrheinische Gebiet von den verbliebenen Zivilisten zu evakuieren. Die Menschen wurden gezwungen, sich in ein Internierungslager in der Nähe der „Provinzial Heil- und Pflegeanstalt“ in Bedburg-Hau zu begeben. Dort waren schon zuvor Flüchtlinge aus dem umliegenden Kampfgebiet untergekommen. Um die insgesamt 28.000 Zivilisten zu beherbergen, errichtete die britische Armee in Bedburg-Hau eine Zeltstadt. Dieses Lager blieb bis April 1945 in Betrieb. In dieser Zeit starben 347 Menschen an Krankheiten und Infektionen – zumeist waren es kleine Kinder und alte Menschen.
Unter Beschuss
Ab dem 23. März erlebte die Bevölkerung, wie auch der rechte Niederrhein zum Kampfgebiet wurde und eine gewaltige Kriegsmaschinerie über sie hinwegrollte. Wesel war zu diesem Zeitpunkt nur noch in den Randbezirken bewohnt, doch in Hamminkeln und in den Dörfern erlebte die einheimische Bevölkerung nun den Krieg unmittelbar „vor der eigenen Haustür“. Bei den Gefechten wurden Häuser und Höfe zerstört, vielerorts verbrannte das Vieh in den Ställen oder verendete nach Verletzungen durch Granatsplitter. Die Menschen suchten Schutz vor dem Artilleriebeschuss, der die Offensive einleitete. Da viele Gebäude keinen Keller hatten, versammelten sich ganze Nachbarschaften in geeigneten Kellern – stundenlang, manchmal tagelang harrten sie dort in sehr beengten Verhältnissen aus. Zeitzeugen berichten, dass in den Kellern viel gebetet wurde. Oft gesellten sich deutsche Soldaten, die ebenfalls Schutz vor dem Artilleriefeuer suchten, zu diesen „Kellergemeinschaften“. Nachdem die alliierten Truppen den Rhein überquert hatten, begannen die Gefechte zwischen den deutschen Verteidigern und den Angreifern. Eine besondere Situation herrschte am Vormittag des 24. März 1945 im Dreieck zwischen Wesel, Hamminkeln und Mehrhoog – an diesem Samstag landeten in diesem Gebiet fast 20.000 alliierte Soldaten an Fallschirmen oder in Lastenseglern. Auch hier tobten zunächst für einige Stunden Kämpfe.
Zivilisten zwischen den Fronten
Wo gekämpft wurde drohte den Zivilisten größte Gefahr – so kamen allein in Hamminkeln 26 Einwohner ums Leben. Gefährdet waren durch den Beschuss auch Häuser und Höfe. Um die Zerstörung ihres Besitzes zu verhindern baten manche Bewohner die zuständigen deutschen Offiziere oder Unteroffiziere, sich zu ergeben oder mit ihren Soldaten anderswo die Verteidigung fortzusetzen. Wenn sie auf einen fanatischen Kämpfer oder einen überzeugten Nazi trafen, konnte eine solche „Einmischung“ lebensgefährlich sein; schnell stand die Anschuldigung im Raum ein „Vaterlandsverräter“ zu sein. Wer Glück hatte, hatte es mit einsichtigen Verteidigern zu tun. Oft kannten die Einheimischen die Soldaten, weil die deutschen Truppen in den Tagen vor dem Angriff in Privathäusern und auf Höfen einquartiert waren. Als schließlich die alliierten Truppen vorrückten und Höfe und Dörfer einnahmen, durchsuchten sie zunächst die Keller nach deutschen Soldaten. Den Zivilisten befahlen sie zumeist, in den Kellern zu bleiben, denn die Angreifer misstrauten den Deutschen und wollten sie aus dem Weg haben. Bei Wesel mussten sich am 24. März alle Zivilisten auf Befehl der Amerikaner zunächst auf dem Hof Rohler am Molkereiweg in Lackhausen versammeln, einige konnten nach wenigen Stunden zurück in ihre Häuser, manche blieben vier Tage unter Bewachung. In Hamminkeln wurden die Zivilisten in die evangelische und in die katholische Kirche sowie in den Saal der Gaststätte Neu gesperrt – auch sie standen dort zwei Tage lang unter Bewachung. Von Ausnahmen abgesehen verhielten sich die britischen, amerikanischen und kanadischen Soldaten gegenüber der Zivilbevölkerung korrekt und distanziert. Allerdings erinnern sich viele Zeitzeugen an Akte von Vandalismus, denen manche Besitztümer zum Opfer fielen. Die Eroberung der Dörfer beim Rheinübergang und der Luftlandung veränderte schlagartig das Leben der Zivilisten. Plötzlich waren sie mit feindlichen Soldaten konfrontiert; eine Situation, die viele zunächst als gefährlich und bedrohlich erlebten. Gleichzeitig waren die eigenen, deutschen Soldaten geschlagen, gefangen oder getötet. Zum Teil wurden die Zivilisten angewiesen, die in der Umgebung gefallenen deutschen Soldaten in Feldgräbern provisorisch beerdigen.
Der Kampf ist vorbei
Innerhalb weniger Tage – oder bisweilen auch nach einigen Stunden - war eine neue Situation eingetreten: Man lebte nun in einem Gebiet, das von alliierten Soldaten besetzt war und kontrolliert wurde. Die NS-Herrschaft war beendet, die vormaligen Funktionsträger hatten schlagartig ihre Macht verloren. Wer konnte, ließ noch schnell NSDAP-Parteiabzeichen, Hakenkreuzfahnen und Hitlerbilder verschwinden, bevor die fremden Soldaten sie fanden. Die siegreichen Alliierten hängten in den Dörfern und Städten nun Plakate auf, um die „Proklamation Nr. 1“ bekannt zu machen. In dieser wandte sich der oberste Befehlshaber der Alliierten, US-General Dwight D. Eisenhower, an die Deutschen:
„Wir kommen als ein siegreiches Heer: jedoch nicht als Unterdrücker. In dem deutschen Gebiet, das von Streitkräften unter meinem Oberbefehl besetzt ist, werden wir den Nationalsozialismus und den deutschen Militarismus vernichten, die Herrschaft der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei beseitigen, die NSDAP auflösen sowie die grausamen, harten und ungerechten Rechtsätze und Einrichtungen, die von der NSDAP geschaffen worden sind, aufheben. Den deutschen Militarismus, der so oft den Frieden der Welt gestört hat, werden wir endgültig beseitigen. Führer der Wehrmacht und der NSDAP, Mitglieder der Geheimen Staats-Polizei und andere Personen, die verdächtigt sind, Verbrechen und Grausamkeiten begangen zu haben, werden gerichtlich angeklagt und, falls für schuldig befunden, ihrer gerechten Bestrafung zugeführt.“ Die Besatzer gaben zudem Anweisungen, wie sich die Bevölkerung zu verhalten hatte. Sie ordneten nächtliche Ausgangssperren an, Radios, Kameras und Waffen mussten abgegeben werden, an jedem Haus musste eine Liste der Bewohner angebracht werden. Damit brach eine neue Zeit an - was sie bringen würde, erschien unabsehbar. Doch bei aller Ungewissheit gab es eine befreiende Erkenntnis: Die unmittelbare Gefahr, durch Bomben oder Beschuss zu Schaden zu kommen, war vorüber. Auch deswegen haben sich der sogenannte „Rheinübergang“ und die „Luftlandung“ im kollektiven Gedächtnis als herausragende Ereignisse eingebrannt – für viele Menschen am rechten Niederrhein brachten sie nach Tagen des Schreckens einen Einschnitt, den sie als „Kriegsende“ empfanden. Der Krieg am Niederrhein hatte in der Phase vom Herbst 1944 bis zum März 1945 wohl annähernd 4000 Zivilisten, einschließlich der zivilen Zwangsarbeiter, das Leben gekostet – genauer lässt sich diese Zahl nicht ermitteln. Die meisten Zivilisten starben bei Bombenangriffen auf Städte und Dörfer, eine eher geringe Zahl bei Kampfhandlungen am Boden.
Eine neue Zeit
Bereits am 30. März 1945, sechs Tage nach dem Rheinübergang, setzte die britische Militärverwaltung in Wesel Jean Groos als Bürgermeister und seinen Sohn Wilhelm Groos als stellvertretenden Bürgermeister ein. Sie sollten nun eine sogenannte „Auftragsverwaltung“ aufbauen, diese hatte die Anweisungen der neuen britischen Militärregierung umzusetzen. Alle bisherigen Angehörigen der Stadtverwaltung sowie Amtsträger in anderen öffentlichen Funktionen wurden im Rahmen der „Entnazifizierung“ überprüft und gegebenenfalls entlassen. In Wesel gab es Ende März 1945 noch etwa 3500 Einwohner - sie lebten vorwiegend in den Randbezirken. Dazu kamen in der Umgebung jedoch auch tausende befreite Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen. Es handelte sich nicht um Kriegsgefangene, die auch vielerorts zur Arbeit eingesetzt wurden, sondern um Zivilisten. Sie waren aus ihren Heimatländern verschleppt worden – viele dieser Männer und Frauen kamen aus Polen und der Ukraine. Sie waren als sogenannte „Ostarbeiter“ zumeist schlecht behandelt und mangelhaft ernährt worden: Auf Bauernhöfen, in Fabriken und Betrieben hatte man sie als rechtlose Arbeitskräfte ausgebeutet. Ähnlich schlecht erging es auch niederländerischen Männern, die im Herbst und Winter 1944/45 schwere Zwangsarbeit beim Bau von Stellungen und Panzergräben geleistet hatten. Von ihnen waren viele an den Strapazen, an Krankheiten und Mangelernährung gestorben. Mit dem Rheinübergang der Alliierten wurden all diese Zwangsarbeiter, die am Niederrhein ihr Leben gefristet hatten, endlich befreit. Die Niederländer machten sich sofort auf den Weg zurück in ihre Heimat. Doch die ehemaligen Zwangsarbeiter – wie auch viele Kriegsgefangene - aus der Sowjetunion konnten nicht sofort dorthin zurückkehren. Sie blieben als „Displaced Persons“ (DPs) zunächst in Deutschland. Am Niederrhein lebten sie in Lagern bei Hamminkeln und bei Haldern; erst ab August 1945 konnten sie in ihre Heimat „zurückgeführt“ werden. Bis dahin kam es zwischen einigen dieser „DPs“, die teilweise Banden bildeten, und den Bewohnern der niederrheinischen Städte und Dörfer immer wieder zu gefährlichen Konflikten. Es gab Racheakte, Überfälle auf Bauernhöfe, Plünderungen, Diebstähle, Vergewaltigungen und auch Morde – auch diese Taten und ihre Vorgeschichte waren ein Kapitel des Zweiten Weltkriegs am Niederrhein.